Leben wir in einem neuen Erdzeitalter? Forscher präsentieren Nachweis für das Anthropozän (2024)

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Leben wir in einem neuen Erdzeitalter? Forscher präsentieren Nachweis für das Anthropozän (1)

Von außen betrachtet lässt nichts erahnen, welcher Schatz am Grund des Crawford-Sees im Süden Kanadas schlummert. Umgeben von Nadelwäldern, durch die sich Wanderwege schlängeln, bedeckt der See gerade einmal eine Fläche von etwa dreieinhalb Fußballfeldern. Doch das Wasser reicht tief – bis zu 24 Meter, um genau zu sein. Das könnte das Gewässer so bedeutsam machen wie kein anderes.

Jahr für Jahr lagern sich auf dem Grund Sedimente ab, die das Geschehen auf der Erde dokumentieren. Deshalb haben Fachleute den Crawford-See nun zu dem Referenzpunkt eines neuen Erdzeitalters auserkoren, Anthropozän genannt. Es markiert den Übergang in eine neue, menschengemachte Welt.

Das Ende des Holozäns

Der Beginn des bisherigen Erdzeitalters liegt schon 12.000 Jahre zurück. Damals endete die letzte Eiszeit, das Holozän begann. Offiziell dauert diese Epoche an, doch in den vergangenen Jahrzehnten hat der Mensch die Erde gehörig verändert.

Die globalen Temperaturen steigen wegen des Ausstoßes von Treibhausgasen rasant, riesige Waldgebiete sind abgeholzt, Arten ausgerottet, Plastik ist in jeden Winkel der Erde verstreut. Die Veränderungen sind so grundlegend, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon seit Jahren von einem neuen Zeitalter sprechen.

Der Begriff Anthropozän besteht aus dem altgriechischen Wort »Ánthropos« für »Mensch«. Die Endung -zän leitet sich vom griechischen »kainós« ab und bedeutet »neu« oder »Neues«. Der Nobelpreisträger Paul Crutzen hat den Begriff spontan im Jahr 2000 während einer Konferenz aufgebracht, um die massiven Veränderungen zu beschreiben, die der Mensch verursacht hat. Seitdem diskutieren Fachleute, ob diese eine neue Etappe auf der geologischen Zeitskala rechtfertigen.

Seltenes Element verrät Einschlag eines Asteroiden

Bislang fehlte der in der Wissenschaft übliche Ort, der den Beginn solch einer neuen Epoche markiert. Normalerweise blicken Forschende dafür Millionen Jahre zurück und studieren Schichten aus Gestein, die sich über die Zeit aufgetürmt haben.

Das Ende der Kreidezeit etwa markiert die sogenannte Iridium-Anomalie. Diese weltweit nachweisbare erhöhte Konzentration des Elements Iridium entstand, als vor gut 66 Millionen Jahren ein Asteroid in den Golf von Mexiko schlug. Die Auswirkungen des Einschlags tilgten fast alle Dinosaurier von der Erde.

An der Stelle, die den Beginn der neuen Epoche in offen zugänglichen Gesteinsschichten anzeigt, ist oft eine Art Plakette angebracht, der sogenannte »Golden Spike«, übersetzt so viel wie der »Goldene Nagel«. Die Anthropocene Working Group, kurz AWG, sucht schon seit Jahren nach einem Punkt auf der Erde, der den Beginn des Anthropozäns anzeigt. Die Gruppe untersuchte die Ostsee, Korallenriffe vor Australien, das Eis der Arktis, Torfgebiete in Polen.

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Nun stimmte die Mehrheit für den Crawford-See in Kanada, wie die AWG auf einer internationalen Tagung bekannt gab. »Der Crawford-See ist so besonders, weil er uns einen jährlichen Überblick über die Veränderungen in der Geschichte der Erde ermöglicht«, sagt Francine McCarthy von der Brock University in Kanada, deren Forschungsteam den See jahrelang untersucht hat.

Das Besondere: Der See ist gemessen an seiner Oberfläche mit 24 Metern sehr tief. Dadurch mischen sich die unteren Wasserschichten nicht mit den oberen, im Fachjargon heißt so etwas meromiktisch. Das Wasser am Grund des Sees bleibt somit praktisch unverändert. Alles, was langsam auf den Grund des Sees sinkt, kleine Tiere, Pollen, Pflanzenreste, wird dort sicher aufbewahrt wie in einem Tresor.

»Das Anthropozän ist real.«

Geologe Jan Zalasiewicz

Nicht nur das: »In diesem See gibt es viel Calcium und Carbonat«, erklärt McCarthy. Jeden Sommer, wenn es warm wird, entsteht daraus das Mineral Kalzit, das langsam zu Boden sinkt und dort eine weiße Schicht bildet. Jahr für Jahr lagern sich immer neue Schichten ab, die sich gut voneinander unterscheiden lassen – ähnlich wie bei Jahresringen von Bäumen. Dadurch entsteht die »jahresgenaue Auflösung«, sagt McCarthy.

Die Spur der Bomben

In den Schichten aus den Fünfzigerjahren tauchen plötzlich vermehrt Plutonium-Isotope auf – ein Überbleibsel der Atomwaffentests während des Kalten Kriegs. Genau sie sollen nun den Beginn des Anthropozäns markieren.

Leben wir in einem neuen Erdzeitalter? Forscher präsentieren Nachweis für das Anthropozän (6)

Der Vorteil: Die Isotope lassen sich überall auf der Welt nachweisen. Die Probe aus dem Crawford-See dient als Standard. Darauf können sich weltweit Forscher beziehen, wenn sie eigene Untersuchungen bei sich vor Ort machen.

Die Atomtests fallen genau in die Zeit, die Forschende die »Great Acceleration« oder die »große Beschleunigung« nennen. In den Fünfzigerjahren wuchs die Weltbevölkerung rasant, hoch industrialisierte Länder beanspruchten immer mehr Ressourcen, der Energieverbrauch zog deutlich an, ebenso der Verbrauch von Düngemitteln. Auch deshalb gilt die Zeit als Marker für das Anthropozän.

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DER SPIEGEL

Der Beginn der Industrialisierung hingegen, auch ein denkbarer Start des Anthropozäns, hat in Gesteinsschichten in vielen Regionen der Welt keine Spuren hinterlassen, teilte die AWG mit. Denn diese Revolution vor rund 200 bis 250 Jahren war zunächst auf bestimmte Teile der Welt wie die USA und Europa beschränkt.

Ob das Anthropozän – mit dem Crawford-See als Referenzpunkt – tatsächlich zum offiziellen neuen Zeitalter erklärt wird, steht noch nicht endgültig fest. Drei übergeordnete Gremien müssen dem Vorschlag erst zustimmen. Eine Entscheidung wird frühestens im Sommer kommenden Jahres erwartet.

Der Geologe Jan Zalasiewicz von der AWG ist zuversichtlich, dass der Vorschlag angenommen wird. »Wissenschaft«, sagt er, »heißt festzustellen, was wirklich ist und was nicht. Und das Anthropozän ist real.«

koe/dpa/AFP

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Author: Zonia Mosciski DO

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